Innerer Prozess
16.09.2022
von
Ronny Scholz
„Wie eine archäologische Reise zum Innenleben des Romans," Regisseur und Ausstatter Sebastian Ritschel und Chefdramaturg Ronny Scholz sprechen über die Auseinandersetzung mit Kafkas Romanfragment und über Schuld, Absurdität und eine höhere Gewalt.
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RONNY SCHOLZ (RS) Kafkas rätselhaftes Romanfragment DER PROZESS wurde schnell als Schlüsselwerk verstanden und unzählige Male für das Theater adaptiert. Worin besteht für dich das Faszinosum der Vorlage als Theaterstoff?
SEBASTIAN RITSCHEL (SR) Kafkas Romanfragment DER PROZESS und die spannende Aufarbeitung seiner Entstehung haben mich schon immer fasziniert. Der Versuch Kafkas Schreibprozess und seine Handschrift zu analysieren, ist wie eine archäologische Reise zum Innenleben des Romans. Kafkas theatrale „Welten“ sind auf den ersten Blick geprägt von der allgegenwärtigen Präsenz einer höheren Gewalt, die gegen den machtlosen Einzelnen agiert, und einem nicht unproblematischen Verhältnis zum weiblichen Geschlecht – insgesamt ein eher „dunkles“ Bild. Doch es existiert gleichzeitig ein facettenreiches Bild von Absurditäten und grotesken Situationen – man denke nur an Max Brods Kommentar anlässlich der lachsalven beim gemeinsamen Vorlesen des PROZESS'.
RS Und als Oper?
SR Auf der Suche nach Adaptionen von Kafka-Stoffen für das Musiktheater stößt man auf einige Werke, die aufgrund ihrer unglaublichen Größe oft nicht in Frage kommen. Komponist Gottfried von Einem und seine lustvolle Vertonung des Stofes bilden eine pragmatische Ausnahme. Die Oper –zwischen Parlando, Jazz und pochender Rhythmik – vertieft die absurde Ebene des Romans, indem sie Doppelgänger*innen schafft und diese als Projektions- und Erinnerungsflächen „gegen“ Josef K. verwendet.
RS Wofür steht der „Prozess Josef K.“ deiner Meinung nach?
SR Die Frage Schuld ist einer der zentralsten Aspekte in Kafkas Roman und in seinem gesamten Schaffen. Paradoxerweise erfährt Josef K. nie, inwiefern er schuldig ist. Ich lese den Stoff heute als Prozess einer inneren Entfremdung und als ein Zeichen unterdrückter Schuld.
Betrachtet man den PROZESS vor dem biografischen Hintergrund Kafkas, so sind es vor allem zwei Begebenheiten, die als Anlass für die Verwendung der Schuldthematik angesehen werden können: Kafkas problematisches Verhältnis zu seinem Vater (Herrmann Kafka) und die Auflösung der Verlobung mit Felice Bauer. Bezeichnenderweise fällt diese auf den Vortag Kafkas einunddreißigsten Geburtstages –eine „Parallele“, die Kafka später in seinem Roman drastischer verwenden wird: Am Vorabend seines 31. Geburtstages wird Josef K. umgebracht.
RS In diesem Fall bist du dein eigener Ausstatter: Warum ist vom klassischen Kafka-Schwarz-Weiß nicht viel zu sehen?
SR Weil diese „einfachen“ Parallelen für mich nicht existieren. Das Leitmotiv unserer Inszenierung ist: „Thema und Variationen“. Der dreiteilige Bühnenraum (Zimmer–Straße–Bank) spiegelt die Ausweglosigkeit von Josef K. wieder. Wir zeichen, dass er trotz veränderter Spiel-Situationen immer wieder am „gleichen Ort“ gefangen ist. Eine endlose Schleife setzt sich in Bewegung: Es gibt kein Entrinnen.
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